„Der eine, entscheidende Beweis fehlt“ – Bundesanwaltschaft beginnt Plädoyer im Fall Lina E.

Am 92. Verhandlungstag biegt das Verfahren am Oberlandesgericht Dresden auf die Zielgerade. Die Staatsanwälte räumten zu Beginn eine problematische Beweislage ein – bei einem sei man sich aber sicher.

Nach anderthalb Jahren Prozess hat die Bundesanwaltschaft am Donnerstagvormittag mit ihrem Plädoyer im Fall Lina E. begonnen. Um 10.17 Uhr schloss der vorsitzende Richter Schlüter-Staats die Beweisaufnahme. Er bat das Publikum um Ruhe und darum, „sich das einfach anzuhören“. Dann übergab er der Bundesanwaltschaft das Wort, das Chefanklägerin Alexandra Geilhorn ergriff.

Geilhorn begann mit einigen Anmerkungen. In den vergangenen Jahren sei zu beobachten gewesen, dass die Auseinandersetzungen zwischen linkem und rechtem Lager zugenommen hätten. Solche Angriffe seien „gleichermaßen zu verurteilen und zu bestrafen“ – egal, von wem sie ausgingen. Niemand könne die eigene Meinung mittels Körperverletzung durchsetzen. Denn: „Es gibt keine gute politische Gewalt“. Körperliche Unversehrtheit sei „nicht abhängig von politischer Überzeugung“. Der Wert eines Menschen richte sich „nicht nach Weltanschauung“.

Richter mahnt Publikum zur Ruhe

Das, so Geilhorn, hätten die vier Angeklagten anders gesehen. Sie hätten „die politische Auseinandersetzung in den militanten Straßenkampf verlagert“. Doch ihre Gewalt habe nur neue Gewalt gefördert. Die Gruppe, die es sich zum Ziel machte, Personen der rechten Szene anzugreifen, um sie zu verschrecken, habe im Gegenteil „die Radikalisierung der politischen Lager vorangetrieben“.

Auch bei diesem Satz stöhnte das Publikum auf. Wie in allen vergangenen Verhandlungstagen kann die Angeklagte Lina E. sich ihren angereisten Unterstützern sicher sein. Während der ersten zwei Stunden Plädoyer mahnt Richter Schlüter-Staats die Zuschauenden zur Ruhe.

Nachdem ihr Kollege die sechs fraglichen Taten der sogenannten Gruppe E. noch einmal zusammenfasste, übernimmt wieder Staatsanwältin Geilhorn. Der Kernpunkt ihres Plädoyers: Dem Verfahren fehle zwar „der eine, entscheidende Beweis“, es gebe „keine Smoking Gun“. Dafür habe man viele einzelne Beweise und Indizien gesammelt. Diese, räumt Geilhorn ein, würden für sich genommen zwar nicht „nicht alles erklären“. Einige seien sogar „anderer Deutung zugänglich“.

Staatsanwältin: Angeklagten aller sechs Taten überführt, Lina E. jedes Mal beteiligt

Aber man müsse die Beweise „in ihrer Häufung“ und „im Zusammenhang würdigen“. Wegen Wiederholungen oder Ähnlichkeiten würden sich „gegenseitig verstärken“. So komme sie zu dem Schluss, dass die vier Angeklagten um Lina E. „bis auf zwei Ausnahmen der Taten überführt“ seien. E. sei in ihren Augen an allen Taten mindestens indirekt beteiligt gewesen – wenn nicht vor Ort, dann etwa durch vorheriges Ausspähen oder Beschaffen von Tatwerkzeugen.

Bis zur Mittagspause ging Bundesanwältin Geilhorn auf weitere Probleme des Verfahrens ein. Etwa den Umstand, dass viele Zeugen auch gleichzeitig Opfer und Angehörige der rechten Szene seien. Können ihre Aussagen überhaupt verwertet werden? Zudem sagte mit dem Aussteiger Johannes D. ein Zeuge aus, der nach Vorwürfen sexueller Gewalt aus der Szene gedrängt wurde. Sind seine Ausführungen überhaupt glaubwürdig? Die Verteidigung hatte das im Laufe des Verfahrens immer wieder angezweifelt.

Geilhorn widersprach dem. Es gebe keinen „Erfahrungssatz“, so die Oberstaatsanwältin der Bundesanwaltschaft, dass politisch verfeindete Lager automatisch falsch gegeneinander aussagen. Der Zeuge D. hätte viele „Gelegenheiten, um jemanden hinzuhängen“ gehabt, aber diese in ihren Augen nicht genutzt. Sie würde es ihm nicht zutrauen, derartig viele „Einzelheiten in ein Lügengebäude zu integrieren“ – und dieses über Monate in teils tagelangen Befragungen aufrechtzuerhalten. „Ich halte das für unmöglich“, so Geilhorn.

Urteil am 3. Mai erwartet

Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft wird am Nachmittag fortgesetzt und vermutlich noch mehrere Prozesstage in der kommenden Woche dauern. Danach ist die Verteidigung mit ihren Plädoyers dran. Am 3. Mai soll das Urteil gefällt werden. Die linke Szene kündigte bereits an, am Sonnabend nach dem Urteil an einem „Tag X“ zu demonstrieren – dieser fiele dann auf den 6. Mai.

Lina E. wurde am 6. November 2020 in Leipzig festgenommen, wo sie Erziehungswissenschaften im Master studierte. Die Polizei brachte E. damals aufsehenerregend per Hubschrauber zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe. Seither sitzt sie in Untersuchungshaft. Gegen E. und die nicht-Inhaftierten Lennart A., Jannis R. und Philipp M. richtet sich die Anklage am Dresdner Oberlandesgericht.

Das Verfahren war von komplizierten Beweisanträgen und teils schwammigen Zeugenaussagen geprägt. Für Außenstehende war der Verlauf nicht immer ganz nachzuvollziehen. Im Juli nahm der Prozess eine Wendung, als der Aussteiger Johannes D. vernommen wurde, der bei Straftaten der Gruppe E. mitgewirkt hatte. D. trat als Kronzeuge auf und konnte dadurch seinerseits auf ein milderes Urteil hoffen.